Zweischriftigkeit

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Daniel Bunčić (Tübingen)

Zweischriftigkeit in Gegenwart und Geschichte des Serbokroatischen

Der Vortrag gibt einen schriftsoziolinguistischen Überblick über die komplexe Geschichte der schriftlichen Äußerungen der Bosniaken, Kroaten, Montenegriner und Serben und ihrer Vorfahren von den ersten Schriftzeugnissen bis in die Gegenwart. Dabei wird mit einigen Mythen und Vorurteilen aufgeräumt:

“Two scripts are used in Serbo-Croatian: the Kirillitsa script is used by the Serbs and the Latin script [is] used by the Croats.”
(Gilyarevsky & Grivnin 1970: 92)
Um dieses häufige Missverständnis aufzuklären (das man z. B. auch bei Diringer 1962: 157, Friedrich 1966: 120 oder Dale 1980: 9 findet), wird der Stellenwert des kyrillischen Alphabets für die Kroaten und des lateinischen für die Serben in Gegenwart und Geschichte erläutert.

“If in any society any particular writer has the option of writing some specific text in more than one writing system, unconstrained by topic or purpose of the text, that is a most unusual circumstance.”
(Daniels 2008: 190)
So unglaublich es scheinen mag – genau dies ist im heutigen Serbischen der Fall. Dafür gilt es den Beweis anzutreten. Nichtsdestotrotz hat der Gebrauch der kyrillischen oder der lateinischen Schrift jedoch einen starken semiotischen Wert und transportiert Assoziationen. Durch eine genaue Differenzierung, die z. B. den Unterschied zwischen den Begriffen ›Textsorte‹ und ›Diskurstradition‹ nutzbar macht, lassen sich die grundsätzliche Wahlfreiheit und die semiotische Aufladung der Schriften miteinander in Einklang bringen.

»Tijekom 12. stoljeća, hrvatska je kultura uobličena kao samosvojan entitet u kojem ravnopravno supostoje i razvijaju se (uz zamjetne međuutjecaje) tri pisma — latinica, glagoljica i […] ćirilica […].«
(»Im Laufe des 12. Jahrhunderts wurde die kroatische Kultur als eigenständige Entität gebildet, in der drei Schriften gleichberechtigt nebeneinander existieren und sich (mit merklichen Wechselwirkungen) entwickeln: die lateinische, die glagolitische und die […] kyrillische […].«, Hercigonja ²2006: 63)
In der nationalphilologischen Betrachtung wird gern der Eindruck erweckt, dass der historische Gebrauch mehrerer Schriften (Glagolitisch, Kyrillisch und Lateinisch bei den Kroaten; Arabisch, Kyrillisch und Lateinisch bei den Bosniaken) eine gesamte ›Nation‹ erfasst habe, die mit diesen Schriften ähnlich vertraut gewesen sei wie die heutigen Serben mit ihren beiden Alphabeten. Auch diesen Mythos wird der Vortrag relativieren.

Insgesamt entsteht so ein komplexes Bild, das zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten des serbokroatischen Gebietes Beispiele für alle drei schriftsoziolinguistischen Grundmodelle enthält: Bigraphismus, Digraphie und Schrift-Plurizentrismus.

Dale, Ian R. H. 1980. Digraphia. International Journal of the Sociology of Language 26. 5–13.

Daniels, Peter T. 2008. Rez.: Seth L. Sanders (ed.), Margins of writing, origins of cultures, Chicago 2006. International Journal of the Sociology of Language 192. 187–190.

Diringer, David. 1962. Writing. New York: Praeger (= Ancient Peoples and Places 25).

Friedrich, Johannes. 1966. Geschichte der Schrift: Unter besonderer Berücksichtigung ihrer geistigen Entwicklung. Heidelberg: Winter.

Gilyarevsky, R[udžero] S[ergeevič] & V[ladimir] S[Sergeevič] Grivnin. 1970. Languages [sic] identification guide. Moscow: Nauka.

Hercigonja, Eduard. ²2006. Tropismena i trojezična kultura hrvatskoga srednjovjekovlja. Zagreb: Matica Hrvatska (1. Aufl. 1994).