Zweischriftigkeit |
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Nachdem die Sprachwissenschaft des 18. und 19. Jahrhunderts oft Buchstaben mit Lauten verwechselt und Ersteren gegenüber Letzteren den Vorzug gegeben hatte, stellte Saussure den Laut über den Buchstaben: Schrift zu untersuchen, um etwas über Sprache herauszufinden, sei so, »als ob man glaubte, um jemanden zu kennen, sei es besser, seine Photographie als sein Gesicht anzusehen« (Saussure ²1967 [1916]: 28, Einleitung, Kap. VI, § 2). Erst in den letzten Jahren hat die Sprachwissenschaft begonnen, sich von dieser Missachtung der Schrift zu erholen. Im Bereich der formalen Linguistik gibt es inzwischen eine gut ausgebaute Graphematik, aber innerhalb der Soziolinguistik wird Schrift nach wie vor stiefmütterlich behandelt. Erst vor sieben Jahren wurde erstmals überhaupt der Ausdruck “sociolinguistics of writing” benutzt (Coulmas 2003: 223–241), obwohl die enorme symbolische Wirkmächtigkeit von Schrift allgemein bekannt ist (man denke an die Benutzung der Fraktur durch Neonazis, aber auch auf Gaststättenschildern, oder die Demolierung kyrillischer bzw. lateinischer Ortsschilder im Bosnienkrieg).
Nur vor diesem Hintergrund lässt sich die Diskrepanz zwischen der Erforschung der Zweisprachigkeit, die seit Jahrzehnten Konzepte wie Diglossie, Bilinguismus, Code-switching, Standard-Dialekt-Kontinuum usw. hervorgebracht hat, und der Vernachlässigung der Zweischriftigkeit verstehen. Zwar ist das Phänomen schon früh beachtet worden: Pierides (1875: 38) führte den Terminus digraphisch für vormals einfach Bilinguen genannte Denkmäler ein, die den gleichen Text zweimal in verschiedenen Schriften, aber in der gleichen Sprache enthalten; Oppert (1877: 1420) erwähnte erstmals ganze digraphische Sprachen; und Barth (in Bergaigne 1893: 348) schlug dafür den Ausdruck Digraphismus vor. Die Entstehung der Soziolinguistik hat auf diesem Gebiet jedoch bisher kaum Fortschritte erbracht, was schon am terminologischen Chaos gut abzulesen ist: Einerseits gibt es eine Vielzahl von (Quasi-)Synonymen (u. a. Zweischriftigkeit, Digraphie, Bigraphismus, Bialphabetismus, multigraphische Situation, orthographische Diglossie usw.), andererseits wurde allein der ›Terminus‹ Digraphie sechsmal unabhängig voneinander ›erfunden‹ (von Lafont 1971, Zima 1974, Jaquith 1976, Dale 1980, DeFrancis 1984 und Consani 1988/1990) und ist dadurch völlig polysem. Mit Grivelet (2001) liegt ein erster Sammelband zum Thema vor, der jedoch auch noch keinen einheitlichen theoretischen Rahmen bietet.
Es werden – ganz im Sinne von Unseth (2005) – grundlegende (sozio)linguistische Methoden auf die Wahl von Schrift angewandt, um die Herausarbeitung soziokultureller Faktoren zu ermöglichen, welche diese Wahl und die Entstehung von Zweischriftigkeit beeinflussen.
Als Resultat wird nach soziolinguistischen Kriterien unterschieden zwischen:
Neben dieser soziolinguistischen Unterscheidung ist eine graphematische zwischen Schriften (wie Kyrillisch, Lateinisch, Arabisch usw.), glyphischen Schriftvarianten (wie Antiqua, Fraktur und Gälisch als Varianten der lateinischen Schrift) und Orthographien vorzunehmen, denn dies ist für die Beurteilung des kulturellen Austauschs innerhalb von zweischriftigen Sprachgemeinschaften wichtig, weil ein Text in einer fremden Schrift völlig unlesbar sein kann, während verschiedene Orthographien die Kommunikation nie ernsthaft beeinträchtigen.
So ergibt sich folgendes Schema von 3 × 3 Situationstypen. (Unter dem vorgeschlagenen Terminus ist jeweils ein mögliches Beispiel angegeben.)
Schrift | glyphische Variante | Orthographie | |
---|---|---|---|
privativ |
Digraphie Skandinavien (MA): Runen vs. lat. Alphabet |
Diglyphie Russisch (18./19. Jh.): altkyrill. vs. bürgerl. Schrift |
Diorthographie Novgorod (MA): Standard- vs. lokale Orth. |
äquipollent |
Schrift-Plurizentrismus Hindi-Urdu: Devanagari vs. Arabisch |
glyphischer Plurizentrismus Mittellatein: Karolingische Minuskel vs. Beneventana |
orthographischer Plurizentrismus Englisch: color vs. colour usw. |
diasituativ |
Bigraphismus Serbisch: Kyrillisch vs. Lateinisch |
Biglyphismus Deutsch (1749–1941): Fraktur vs. Antiqua |
Biorthographismus Weißrussisch (1980er–2008): Narkamaŭka vs. Taraškevica |
Bergaigne, Abel. 1893. Inscriptions sanscrites du Cambodge [herausgegeben und kommentiert von Auguste Barth]. Notices et extraits des manuscrits de la Bibliothèque Nationale et autres bibliothèques 27(1). 293–588.
Consani, Carlo. 1988. Bilinguismo, diglossia e digrafia nella Grecia antica I: Considerazioni sulle iscrizioni bilingui di Cipro. In: Bilinguismo e biculturalismo nel mondo antico: Atti del Colloquio interdisciplinare tenutoa Pisa il 28 e 29 settembre 1987. Hg. Enrico Campanile, Giorgio R. Cardona, Romano Lazzeroni. Pisa: Giardini. 35–60.
Consani, Carlo. 1990. Bilinguismo, diglossia e digrafia nella Grecia antica III: Le iscrizioni digrafe cipriote.Orientamenti linguistici 25. 63–79.
Coulmas, Florian. 2003. Writing systems:An introduction to their linguistic analysis. Cambridge: Cambridge University Press.
Dale, Ian R. H. 1980. Digraphia. International Journal of the Sociology of Language 26. 5–13.
DeFrancis, John. 1984. Digraphia. Word 35. 59–66.
Fishman, Joshua A. 1965. Who speaks what language to whom and when?, Linguistics 2. 67–88.
Grivelet, Stéphane (Hg.). 2001. Digraphia: Writing systems and society. International Journal of the Sociology of Language 150.
Jaquith, James R. 1976. Digraphia in advertising: The public as guinea pig. Visible Language 10(4). 295–308.
Lafont, Robert. 1971. Un problème de culpabilité sociologique: La diglossie franco-occitane, Langue française 9(1). 93–99.
Oppert, Jules. 1877. [Rez.] François Lenormant, Études sur quelques parties des syllabaires cunéiformes, Paris 1877; idem, Les syllabaires cunéiformes, Paris 1877. Göttingische gelehrte Anzeigen 1877(45–46). 1409–1449.
Pasch, Helma. 2008. Competing scripts: The introduction of the Roman alphabet in Africa. International Journal of the Sociology of Language 191. 65–109.
Pierides, Demetrios. 1875. On a digraphic inscription found in Larnaca. Transactions of the Society of Biblical Archaeology 4(1). 38–43.
Saussure, Ferdinand de. ²1967 [1916]. Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft. Hg. Charles Bally, Albert Sechehaye. Übers. Herman Lommel. Berlin: de Gruyter.
Unseth, Peter. 2005. Sociolinguistic parallels between choosing scripts and languages. Written Language & Literacy 8(1). 19–42.
Zima, Petr. 1974. Digraphia: The case of Hausa. Linguistics 124. 57–69.
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